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Die hohe Kunst des Baumschneidens

Vinschger Bauern sind Scherenschnittkünstler der besonderen Art. Eine Anleitung für besonders gute Früchte.

Es ist Ende Februar und Ernst vom „Stampflhof“ in Tschengls steht - ausgerüstet mit einer modernen Astschere - zwischen den Apfelbaumzeilen seiner Royal Gala. Die Wiese, die heute dran ist, befindet sich in Laatsch im Vinschger Oberland auf einer stolzen alpinen Meereshöhe von 984 m. Auch hier, ganz nahe an der Grenze zur Schweiz, werden im Spätsommer prächtige Royal Gala reif sein.

„Prächtig aber nur dann, wenn WIR jetzt beim Baumschneiden alles richtig machen!“ betont Ernst und zeigt mit seiner Schere auf seine Tochter Franziska, die in der gegenüberliegenden Baumreihe ihre Schere mit derselben handwerklichen Geschicklichkeit von Ast zu Ast schwingt und blind ihrem angelernten Feingefühl für die Bedürfnisse des Baumes vertraut. Schon als Franzi noch ein Kind war, hat sie ihr Vater regelmäßig mit auf die Wiese genommen. Bis man die Kunst des Baumschneidens in automatisierte, intuitive und relativ zügige Bewegungen in sich aufgenommen hat, sind meist zwei-drei Jahre Erfahrung nötig. Auch Franzi musste hier quasi erst hineinwachsen. Ein wenig wie eine neue Sprache lernen, was in jungen Jahren eher leichter fällt. Ganz am Anfang stand auch Franzi ehrfürchtig vor jedem Ast und überlegte, oft Minuten lang, ob dieser abgeschnitten werden musste oder nicht. Eine nicht banale Entscheidung, zumal vom richtigen Baumschnitt die Menge und vor allem die Qualität der zukünftigen Äpfel abhängen. Auch so lernt ein Vinschger Bauernkind mit Verantwortung umzugehen.

„Das Baumschneiden im Winter verfolgt nicht den Zweck, dass der Baum schön wird, sondern dann die Äpfel im Herbst! Wir pflegen keine Bonsai-Bäume zum Nett-Anschauen, sondern Kernobstbäume, deren Früchte unsere Abnehmer begeistern. Wenn wir die Bäume richtig schneiden, bleiben sie vital und bringen regelmäßig recht viele und vor allem gute und gesunde Früchte auf den Tisch.“ bringt es Franzi auf den Punkt.

Was bei mangelnder Erfahrung noch mit zu langem Nachdenken verbunden war, funktioniert nun flott weg und instinktiv, sodass die ca. 1.300 Bäumchen dieser Wiese in eineinhalb Arbeitstagen von ihr und Vater Ernst bewältigt werden können. Oft helfen Ernsts Schwiegersohn Christoph und „Bester Kumpel“ Isidor fleißig mit. Denn in munterer Gesellschaft fällt das Baumschneiden auch bei Minusgraden einfacher und man ist etwas abgelenkt vom eisigen Vinschger Wind, der im Februar über die Malser Haide weht und sich nicht nach warmem Föhn anfühlt. Einige wichtige Grundregeln sind beim Baumschneiden einzuhalten, aber wie gesagt, besser man kann diese instinktiv umsetzen als zu lange drüber nachdenken zu müssen. So kann die Handbewegung mit der Astschere dem Rhythmus des Windes folgen, der das Laub am Boden rascheln lässt.

„Abgeschnitten werden auf jeden Fall zu steil nach oben wachsende Äste, die keine Blütenknospen, sondern nur Blattknospen hervorbringen. Auch miteinander konkurrierende Äste genauso wie solche, die nach innen wachsen oder sich gar kreuzen. Sehr wichtig ist die Krone und allgemein ein kegelförmiges, Christbaum artiges Aussehen des Baumes zu erziehen.“ erklärt Ernst, der seine Fertigkeit in der Kunst des Baumschneidens von einem befreundeten Bauer erlernt hatte.
Wenn die Baumkrone licht und locker bleibt und gut vom Vinschger Wind durchzogen werden kann, bringt das viele Vorteile. Es scheint dann viel mehr Sonnenlicht auf die Blätter, die durch ihre Photosynthese ausreichend Energie für reife und süße Früchte erzeugen können. Außerdem trocknet der Wind in einer lichten Baumkrone die Blätter besser ab und eine trockene Krone ist dann weniger anfällig auf Pilzkrankheiten. Sogar die Ernte im Spätsommer oder Herbst ist bei einer gut erzogenen Krone leichter.

„Die Äste, an denen die besten Äpfel wachsen werden, die müssen dranbleiben. Das sind jene Äste, die wenig steil, sondern relativ flach abzweigen. Die besten Äpfel wachsen aus zweijährigen Trieben.“ bringt es Franzi, die Sekretärin ist, auf den Punkt. Klingt alles recht einfach, aber nur für erfahrene Baumschneider wie Franzi und Ernst. Als Laie tut man sich wohl lange schwer, in Sekundenschnelle einen Ast mit nur Blattknospen von einem anderen zu unterscheiden, der sowohl Blüten- als auch Blattknospen aufweist. Wenn die Bauern und Bäuerinnen hier Friseur am Baum spielen, dann streben sie die notwendige Harmonie zwischen Blattwerk und Blüten und daraus resultierenden Früchten an.

Wie wichtig es ist, diese Harmonie zu fördern, sieht auch der erfahrene Vinschger Bauer erst in der Zukunft. „Erst im Herbst sehen wir die Wirkung vom Schnitt. Dabei spielt auch die Sorte eine große Rolle. Ein Apfelbaum der Sorte Golden Delicious ist viel wüchsiger als ein Royal Gala. Das muss man beim Baumschneiden berücksichtigen. Im Wesentlichen geht es darum, sich für jene Asttriebe zu entscheiden, die für die werdenden Äpfel eine stabile und möglichst schattenfreie Tragfläche bieten können. Durch das Wegschneiden der dafür ungeeigneten Äste, lenkt man die Energie des Baumes in die richtigen Äste.“ erläutert Ernst mit der selbstsicheren Freude eines Mannes, der weiß, wovon er spricht.

Sogar auf dem höchstgelegenen Anbaugebiet für Äpfel in Europa, dort wo die Frucht gemächlicher heranreift als anderswo, muss der detailverliebten Kunst des Baumschneidens viel Zeit gewidmet werden. Denn auch hier wachsen Apfelbäume gerne heißblütig in den Himmel, wenn man sie nicht liebevoll in ihrem Wachstum Richtung Bergsonne begleitet. Das richtige Gleichgewicht zwischen Blattwachstum und Blütenwachstum beeinflusst der fleißige Vinschger Bauer genau in diesen Tagen im Februar, wo die alpinen Böden zwar noch größtenteils zugefroren sind, aber in den wärmeren Tageszeiten ihr Eis auch schmelzen lassen und die Apfelwiese sich dann sehr feucht anfühlt, wie nach einem frischen Regenfall. Die Apfelbäume wachsen in dieser Zeit noch keinen Millimeter und ihr altes Laub ist längst abgefallen. Doch schon jetzt meldet die Vinschger Bergsonne ihre 300 Sonnentage im Jahr an und avisiert die Vinschger Bauern frühzeitig, auf dass sie die Kronen und Seitenäste ihrer Bäume richtig zuschneiden. Schließlich will sie ohne viele Hindernisse zu den werdenden Blättern, Blüten und Früchten vordringen, um Franzi und Ernst für das Ausbilden prächtiger Äpfel reiche Nährstoffe zu garantieren.

Deshalb muss diese Zeit des Aufbruchs am besten mit einem gekonnten Vinschger Scherenschnitt beginnen.
 

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